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Der georgische Geist und die Europäische Idee

Ein Stipendiat und eine Stipendiatin über die Perspektiven Georgiens mit Blick auf die EU

Zehntausende feiern in Georgien und schwenken Europa-Fahnen. So die Meldung im Dezember, nachdem die Staats- und Regierungschefs der EU das Land zum Beitrittskandidaten gemacht haben. Doch was bedeutet dieser Schritt für den Kaukasus-Staat. Das Promotionskolleg „Sicherheit und Entwicklung im 21. Jahrhundert“ bereiste im Sommer 2023 Georgien. Mario Schäfer, Kollegiat im Promotionskolleg, und die Promotionsstipendiatin Nino Apciauri über das Land die Leute und ihre Hoffnungen.

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Lieber Mario, als Stipendiat im Promotionskolleg „Sicherheit und Entwicklung im 21. Jahrhundert“ haben Sie im vergangenen Jahr Georgien bereist. Wie lief die Reise ab und welche Begegnungen haben Sie gemacht?
Es war eine spannende Erfahrung, vor allem durch die Begegnung mit den vielen Menschen vor Ort. Das Auslandsbüro organisierte ein vielseitiges Programm. Wir sprachen mit vielen Experten, sei es von der NATO, von der Bundeswehr oder auch mit dem deutschen Botschafter. Eine Surplace- Stipendiatin der KAS führte uns durch die Gassen der Altstadt von Tbilissi. Im georgischen Parlament spürten wir der georgischen Geschichte nach und konnten einen Hauch der georgischen Sowjetzeit erhaschen. Dort sprachen wir mit einer Vertreterin der „Reformgruppe“ zu den aktuellen Herausforderungen Georgiens. Auch ein Besuch der Demarkationslinie zu Südossetien gehörte zu unserem Programm sowie viele weitere Treffen, die ich hier gar nicht alle aufzählen kann.
Wie haben Sie das Land wahrgenommen?
Georgien präsentierte sich als unabhängiger Staat, dessen enge Beziehungen zu Russland weiterwirken. Die Bevölkerung spricht neben Georgisch tendenziell mehr Russisch als Englisch, auch wenn der Wandel gerade durch die jüngeren Generationen bereits einzieht. Die Präsenz der europäischen Idee in Form von Flaggen, Graffiti und Bauwerken mit europäischen Emblemen drückt sich im gesamten Stadtgebiet Tbilissi aus. Die Zivilbevölkerung engagiert sich bei groben Verstößen gegen die europäische Orientierung oder die demokratische Entwicklung des Landes. Nicht vergessen werden sollte hier, dass die Bevölkerung außerhalb des Zentrums über politische Beziehungen deutlich unbestimmter ist.
Liebe Nino, Sie sind seit 6 Jahren in Deutschland. Wie wird Georgien hier in Deutschland wahrgenommen?
Richtig, ich bin seit 2017 in Heidelberg. Die Tatsache, dass ich als orthodoxe Christin an der Fakultät für Evangelische Theologie promoviere, hat die Suche nach meinem eigenen Ort in der neuen Gesellschaft deutlich geprägt. Die vielen spannenden Gespräche seither haben mir verdeutlicht, dass meine Herkunft und die orthodox-christliche Tradition eng verbunden sind.
Die westliche Kultur weiß leider wenig über das orthodoxe Christentum oder über Georgien. Die Menschen haben oft mythologisierte Vorurteile über das orthodoxe Christentum. Und wenn es um Georgien geht, sind die westlichen Kenntnisse noch sehr von den sowjetischen Assoziationen geprägt. Viele denken, dass die georgische Sprache ähnlich der russischen ist. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben sogar ein eigenes Alphabet. Ich sehe vor allem meine Generation in der Verantwortung: Wir müssen uns darum kümmern, den georgischen Geist unserer europäischen Familie näher zu bringen.
Was heißt es für Sie, Georgierin zu sein?
Mir als Georgiern sind vor allem drei Identitätsmerkmale bewusst. Das sind die Sprache, der Glaube und das eigene Land. Diese Merkmale sind im Bewusstsein des georgischen Volkes auch generell tief verankert. Sie prägen unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seit dem ersten Jahrtausend. Und sind damit auch ganz unabhängig von den russischen Traditionen zu sehen.
Mit Blick auf die EU betone ich immer wieder, dass vor allem das christliche Selbstverständnis ein klares Argument für europäische Integration ist. Wir Georgier streben seit jeher nach Freiheit mit einer opferbereiten Verteidigung des orthodoxen Christentums und der damit verbundenen Nächstenliebe. Genau dieses Streben sollte für die EU eine klare Botschaft sein.
Lieber Mario, wie haben Sie die Georgier wahrgenommen?
Ich kann diesen Eindruck nur bestätigen. Die Georgier waren uns gegenüber außerordentlich aufgeschlossen. Sie lieben es, ihr Land und ihre Kultur zu zeigen. Sie schwärmen von den Bergen, dem Wein und dem pazifistischen Selbstverständnis des Landes. Georgier zeigen sich stolz als Bewohner der Kaukasusrepublik. Zugleich bezeugen sie eine große Demut, da sie um ihren Status als kleines Land in der Welt wissen. Beeindruckt hat mich auch, wie viele Georgier sich mit der Ukraine solidarisieren. An jeder Straßenecke weisen Graffiti daraufhin: Ukraine = Georgien.
Liebe Nino, was wünschen Sie sich für die Zukunft Ihres Landes?
Diese Frage habe ich auch in meinem Freundeskreis gestellt. Wir waren uns in dem Wunsch einig, dass wir uns als europäische Kultur darstellen und dass wir als solches gehört und verstanden werden wollen. Ein weiteres Thema, das wir nicht vergessen dürfen, ist die russische Okkupation der georgischen Regionen Abchasien und Tskhinvali. Die Gebiete sind schon seit dem Zerfall der Sowjetunion zu Werkzeugen im russischen Machtkampf geworden. Der allererste Wunsch jeder Georgierin bzw. jedes Georgiers ist die friedliche Lösung dieses Konflikts und die Befreiung sowohl der georgischen Regionen von der russischen Okkupation als auch des georgischen Geistes von den gruseligen Erfahrungen der Abhängigkeit und russischen Gewalt.
Lieber Mario, was empfehlen Sie jedem, der Georgien bereisen möchte?
Das Land ist wahnsinnig vielseitig. Das Wichtigste ist aber wohl, sich Zeit zu nehmen. Während nämlich die landschaftliche Schönheit unmittelbar verzaubert, erschließen sich viele der Besonderheiten Georgiens erst bei tiefergehender Betrachtung. Meist hilft dabei, mit den Georgiern das ein oder andere Glas des wohlschmeckenden georgischen Weines zu kosten.

 

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